Solange der Justiz- und Justizvollzugsapparat nicht irgendwann bereit ist, sich selbst aufzulösen, wird Strafbedarf auf geheimnisvolle Weise immer vorhanden sein.
Es gibt in der Justizordnung ein - gedachtes - ideales Strafmaß. Dies vorausgesetzt, begänne dann nicht exakt oberhalb dieses Strafmaßes der Bereich, wo der Strafende selbst zum Verbrecher wird? Und müssten Richter insofern nicht vorsichtig, ja übervorsichtig sein mit der Bemessung einer solchen Strafe?
Eigenartigerweise herrscht diesbezüglich aber große Unbedenklichkeit im Strafwesen. Man kann zwar für Gefängnisaufenthalte eine geringe Entschädigung erhalten - derzeit 75 Euro pro Tag -, wenn sich herausstellt, dass man eindeutig unschuldig war; ungerechte Richter müssen aber kaum Sanktionen befürchten, wenn sie „über ihr Ziel hinausschießen“.
Zerstörte Familien, zerstörte Lebenswege, zerstörte Seelen - Richter, Gefängnisdirektoren und Vollzugsbeamte werden mit den destruktiven Ergebnissen ihrer Arbeit kaum jemals konfrontiert. Wenn sie doch davon erfahren, nehmen sie wahrscheinlich an, die Straftäter hätten sich ihr Schicksal selbst zuzuschreiben. Es gibt keine noch so grausame, abstoßende und maßlose Strafe, für die sich nicht irgendjemand gefunden hätte, der sie getreulich exekutierte - und zwar, wohlgemerkt, mit gutem Gewissen.
„Wenn man die Geschichte erforscht (…), dann wird man völlig von Ekel erfüllt, nicht wegen der Taten der Verbrecher, sondern wegen der Strafen, die die Guten auferlegt haben; und eine Gemeinschaft wird unendlich mehr durch das gewohnheitsmäßige Verhängen von Strafen verroht als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen.“
Oscar Wilde