von Roland Rottenfußer / Manova
Solange der Justiz- und Justizvollzugsapparat nicht irgendwann bereit ist, sich selbst aufzulösen, wird Strafbedarf auf geheimnisvolle Weise immer vorhanden sein. Man denke an eigens eingerichtete „Sonderstäbe“ zur Terrorismusbekämpfung. Diese müssen ihre Existenzberechtigung immer aufs Neue belegen, indem sie Handlungsbedarf behaupten und die Bedrohungslage drastisch schwarz färben.
Man stelle sich eine Welt vor, in der tausende von Richtern, Staatsanwälten, Polizisten, Behörden-Mitarbeiter, Vollstreckungsschergen, Gefängnisdirektoren, Gefängnisverpflegungs-Unternehmer, Hersteller von Sträflingskleidung und so weiter arbeitslos den Hartz-IV-Behörden zur Last fielen. Eine ökonomische und menschliche Katastrophe!
Daher besteht indirekt eine Verpflichtung der Gesamtbevölkerung, immer genügend Delinquenten zur Verfügung zu stellen, die der Bestrafungsindustrie als Zielgruppe dienen können.
Gerade Corona zeigt, dass Strafen für den Staat ein ganz wesentliches Disziplinierungsinstrument darstellen. Strafen erhöhen sich oft umgekehrt proportional zu ihrem Sinngehalt. Wenn die Regierenden zu Recht befürchten, sehr viele Menschen würden sich niemals freiwillig an eine Vorschrift halten, steigern sie einfach die Brutalität der Strafandrohung beziehungsweise die Höhe des „Ordnungsgeldes“.
Wer Freude dabei empfindet, anderen Schmerzen zuzufügen, kann aus dem Bußgeldkatalog für Verstöße gegen die Corona-Regeln reichlich Lustgewinn ziehen. Corona hat zu einer Blütezeit des Delikt-Designs geführt. Verhaltensweisen wurden verboten, von denen noch vor 14 Monaten niemand auch nur im Traum geahnt hatte, dass sie schlimm sein könnten.
In seiner schon klassischen Abhandlung „Überwachen und Strafen“ deutete der französische Philosoph Michel Foucault das Gefängnis als verfeinerte Form der in früheren Jahrhunderten dominierenden Leibesstrafen. Letztlich als weiße Folter, die Zufügung von Qualen zum Zweck der Selbstpositionierung und Stabilisierung von Macht.
Die Marter „als Sieg über das den Souverän verletzende Verbrechen entfaltet sich vor den Augen als eine unüberwindliche Kraft. Sie soll weniger das Gleichgewicht wiederherstellen als vielmehr die Asymmetrie zwischen dem Subjekt, welches das Gesetz zu verletzen gewagt hat, und dem allmächtigen Souverän, der das Gesetz zur Geltung bringt, bis zum Äußersten ausspielen. Die Strafzeremonie ist "terrorisierend"!
Mit fortschreitender Strafpraxis vollzieht sich über die Jahrhunderte „eine Anpassung und Verfeinerung der Apparate, die das alltägliche Verhalten der Individuen, ihre Identität, ihre Tätigkeit, ihre scheinbar bedeutungslosen Gesten erfassen und überwachen“ (Foucault). Die Justiz wird „kleinlicher“, das heißt, sie erstreckt ihre Repressionsmacht auf immer mehr „Delikte“ und versucht so, menschliches Verhalten auf immer mehr Gebieten zu normieren.
Es kommt „zu einem lückenlosen Durchkämmen des Gesellschaftskörpers“, wobei „die Unduldsamkeit gegenüber Eigentumsdelikten zunimmt, die Kontrollen dichter werden und die Strafmaßnahmen früher einsetzen und zahlreicher werden“. Neu kreierte Straftatbestände im Zusammenhang mit Verstößen gegen Corona-Regeln sind ein durchaus treffendes Beispiel für diese Tendenz.
Das gesellschaftliche Ideal, das dem zugrunde liegt, ist nach Foucault ein militärisches. Dieses „berief sich nicht auf den Naturzustand, sondern auf die sorgfältig montierten Räder einer Maschine; nicht auf einen ursprünglichen Vertrag, sondern auf dauernde Zwangsverhältnisse; nicht auf grundlegende Rechte, sondern auf endlos fortschreitende Abrichtungen; nicht auf den allgemeinen Willen, sondern auf die automatische Gelehrigkeit und Fügsamkeit“.
Die „Abrichtung“ wurde — neben dem Militär — auch auf viele zivile Bereiche ausgeweitet: etwa in Schulen oder am Arbeitsplatz. Sie umfasste eine Dressur des Verhaltens wie auch der Körperhaltung sowie der inneren Haltung, einschließlich der Sauberkeitserziehung und der Sexualität. Bei fortschreitender Radikalisierung der Staatsmacht kommt es zu einer Ausweitung nicht nur der Anzahl der Strafanlässe, sondern auch der Formen des Strafens.
„Einerseits sollen die kleinsten Verhaltensfehler mit Strafen belegt werden, andererseits sollen anscheinend harmlose Elemente des Disziplinierungsapparats zu Strafen umfunktioniert werden; bis alles dazu dienen kann, alles zu bestrafen; bis jedes Subjekt in einem Universum von Strafbarkeiten und Strafmitteln heimisch wird.“
Das Strafsystem ist der bewusste und kalten Herzens exekutierte Versuch, eine künstliche Hölle zu kreieren. Die Frage beim Strafen ist immer: „Wie kann ich bewirken, dass der Bestrafte leidet?“ Natürlich gibt es in „zivilisierten“ Nationen gewisse Grenzen für das bewusste Schaffen von Leiden. Niemand soll sich aber einbilden, dass Gefängnis keine psychische Folter wäre. Die ganze „Logik“ des Strafens muss notwendig bei den Ausführenden zu einer Verrohung des Denkens und Fühlens führen. Speziell das Gefängnis als Arbeitsbereich dürfte nicht ohne gravierende psychische Folgen für die Vollstrecker von Strafen bleiben.